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Plötzlich. Heftig. Ausweglos.

Sarah arbeitete als Kellnerin in einem Café und war gerade dabei, im sonnigen Gastgarten Kuchen zu servieren, als sie im Augenwinkel plötzlich etwas Ungewöhnliches bemerkte. Im Haus vis-à-vis stieg ein Mann im dritten Stock aufs Fensterbrett, sprang ohne zu zögern in die Tiefe und prallte vor ihren Augen am Asphalt auf. Sie schrie, erstarrte vor Entsetzen und fühlte sich hilflos. Ein Gefühl der Überforderung überfiel sie. Die Zeit schien stillzustehen. Als ich eintraf, zitterte sie immer noch am ganzen Körper. „Wie soll ich dieses Bild jemals wieder aus dem Kopf bekommen?“, wiederholte sie wieder und wieder. „Vergessen werden Sie dieses Bild wahrscheinlich nie“, antwortete ich ihr. „Aber es darf mit der Zeit verblassen.“


Plötzlich, unerwartet und aus heiterem Himmel, mit einer großen Heftigkeit und ausweglos – das sind die Bestandteile potenziell traumatisierender Ereignisse. Sarahs Reaktion auf das Ereignis war normal, fast alle Menschen würden so reagieren. Die Situation, die sie erleben musste, die war es nicht. Solche Ereignisse haben das Potenzial, Menschen seelisch schwer zu verletzen. Der Fachbegriff für diese Verletzung lautet Trauma, der sich vom griechischen Wort für „Wunde“ herleitet. Die Fachwelt teilt Traumata in verschiedene Typen ein, je nachdem, ob es sich um ein einzelnes, oder um ein wiederkehrendes Ereignis handelt. Weiters wird unterschieden, ob das Trauma durch die Umwelt (z.B. Naturkatastrophen) oder durch Menschen verursacht wurde. Je näher uns dabei die beteiligten Menschen stehen, umso traumatisierender erleben wir die Situation, weil die Vertrauensbasis dadurch völlig zerstört wird. Traumatisierend können Ereignisse auch wirken, wenn wir sie nicht persönlich erleben, sondern Augenzeuge davon werden und die üblichen Anpassungs- und Bewältigungsstrategien versagen. Dann erleben die meisten Menschen intensive Angst und Überforderung. Unser Gehirn kann darauf reagieren, indem es „den Stecker zieht“. Es trennt dann die unterschiedlichen Sinneseindrücke voneinander, die Bilder, Gefühle, Geräusche, Gerüche und den Geschmack. Diese einzelnen Erinnerungsfetzen können dann später immer wieder auftauchen. Bei diesen sogenannten Flashbacks werden die abgespeicherten Sinneseindrücke wild durcheinander und ungeordnet wieder reaktiviert. Da sich dabei aber auch unser Zeitempfinden verändert, können wir diese Eindrücke zeitlich nicht in der Vergangenheit verorten und wir reagieren, als würde sich das Geschehen im Hier und Jetzt wiederholen.


Je schneller wir in potenziell traumatisierenden Situationen das Gefühl bekommen, dass die bedrohliche Situation vorbei ist und wir uns wieder in Sicherheit befinden, umso besser. Sarah nahm die Unterstützung dankbar an. Sie begriff, dass sie das Erlebte nicht mehr rückgängig machen kann. Aber mit der Zeit und weiterer Hilfe wird sie es in ihr Leben integrieren können. Dann darf die Wunde langsam heilen.


© Thomas Kalkus-Promitzer 2022-09-09

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