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Ein Leben voller Sinn

Sinnkrisen sind Momente im Leben, in denen nichts mehr zu passen scheint. Der Alltag verliert seinen Glanz, einst wichtige Ziele wirken bedeutungslos, und die Frage nach dem Warum wird drängender denn je. In solchen Zeiten kann sich das Gefühl der Leere ausbreiten, als ob das Fundament, auf dem das eigene Leben steht, bröckelt. Es ist eine tiefgehende Erschütterung, die oft mit Verzweiflung einhergeht, aber auch eine große Chance in sich trägt.


Viktor Frankl, ein bedeutender Psychiater und Überlebender des Holocaust, hat sich intensiv mit dem Sinn des Lebens auseinandergesetzt. In seiner Logotherapie beschreibt er, dass der Mensch nicht nach Glück strebt, sondern nach Sinn. Glück, so Frankl, ist eine Folgeerscheinung – es stellt sich ein, wenn wir etwas Sinnvolles tun. Sein berühmter Satz „Der Mensch ist nicht frei von Bedingungen, aber er ist frei, Stellung zu ihnen zu nehmen“ zeigt, dass auch in der tiefsten Krise eine Wahlmöglichkeit besteht: die Wahl, wie man mit dem Erlebten umgeht.


Es gibt Zeiten, in denen sich der Sinn des Lebens zu verflüchtigen scheint. Wenn äußere Sicherheiten wegbrechen, wenn das, was uns bislang getragen hat, nicht mehr trägt, dann kann es sich anfühlen, als ob man im Nichts steht. Doch genau in diesem Moment liegt eine entscheidende Frage verborgen: Wofür stehe ich auf? Wofür lohnt es sich, weiterzumachen? Frankl war überzeugt, dass der Sinn des Lebens nicht gefunden, sondern geschaffen wird. Er liegt nicht irgendwo versteckt und wartet darauf, entdeckt zu werden, sondern er entsteht durch unser Handeln, durch unsere Entscheidungen und durch die Art, wie wir mit unseren Herausforderungen umgehen.


Eine Sinnkrise ist wie eine dichte Nebelwand auf offener See. Man sieht nicht mehr den Horizont, spürt nicht mehr die gewohnte Orientierung. Das Wasser unter einem ist tief, der Himmel darüber grau. Es scheint, als hätte sich der Kurs verloren, als gäbe es keinen Weg mehr nach vorn. Doch wer inmitten dieses Nebels innehält, erkennt etwas Entscheidendes: Der Kompass, nach dem wir suchen, liegt nicht außerhalb von uns, sondern in unserem Inneren. Der Nebel mag die Sicht versperren, aber er nimmt uns nicht die Fähigkeit, zu steuern. Es braucht Mut, in dieser Unsicherheit weiterzufahren, auch ohne klare Sicht, doch mit jedem entschlossenen Schritt lichtet sich der Nebel, und irgendwann taucht die Küste auf – nicht als fertiges Ziel, sondern als neuer Anfang.


Es gibt Menschen, die selbst unter widrigsten Umständen einen Sinn finden. Sie erleben Schmerzen, Verluste, Ungerechtigkeiten – und trotzdem schaffen sie es, nicht an ihrer Situation zu zerbrechen. Das bedeutet nicht, dass sie nicht leiden, im Gegenteil. Doch sie entscheiden sich dafür, trotz allem ihrem Leben eine Richtung zu geben. Diese innere Haltung ist es, die einen Unterschied macht. Sie hilft dabei, Krisen nicht nur zu überstehen, sondern sie zu transformieren.


Manchmal scheint es, als gäbe es keine Antwort auf die Frage nach dem Sinn. Die Leere ist erdrückend, und kein Gedanke bietet einen Ausweg. In diesen Momenten kann es helfen, die Aufmerksamkeit auf andere Menschen zu richten. Frankl betonte, dass Sinn oft darin liegt, über sich selbst hinauszugehen. Wer für andere da ist, wer Verantwortung übernimmt, wer einen Beitrag leistet, findet oft eine tiefere Erfüllung. Der Sinn kann in der Fürsorge für ein Kind liegen, in der Liebe zu einem Menschen, in einem kreativen Ausdruck oder in einem beruflichen Engagement, das über den bloßen Broterwerb hinausgeht.

Es geht nicht darum, einen großen, alles erklärenden Sinn zu entdecken, sondern darum, in jedem Moment eine Richtung zu wählen, die sich für einen selbst stimmig anfühlt. Manchmal genügt ein erster, kleiner Schritt: Eine Geste der Freundlichkeit, eine Entscheidung für Veränderung, ein neuer Blickwinkel. Krisen haben die Kraft, uns zu neuen Wegen zu führen, die wir vorher nicht gesehen haben. Sie fordern uns heraus, nicht aufzugeben, sondern zu wachsen.


Wenn du in einer Sinnkrise steckst, erinnere dich daran, dass dies nicht das Ende ist. Es ist ein Übergang. Es ist eine Phase, die nach etwas Neuem ruft. Vielleicht fühlt es sich an, als würdest du durch Dunkelheit tappen, doch Dunkelheit bedeutet nicht Abwesenheit von Sinn, sondern oft nur, dass sich eine alte Bedeutung auflöst, um Platz für eine neue zu machen. Die wichtigste Entscheidung, die du in einer solchen Zeit treffen kannst, ist, weiterzugehen. Dich dem Leben wieder zuzuwenden. Die eigene Verantwortung anzunehmen und aus der eigenen Tiefe heraus zu handeln.


Es gibt einen Grund, warum du hier bist. Selbst wenn du ihn jetzt nicht klar erkennen kannst, bedeutet das nicht, dass er nicht existiert. Dein Leben hat Bedeutung – nicht, weil jemand es dir gibt, sondern weil du ihm Bedeutung verleihst. Jeden Tag. In jeder Begegnung. In jeder Entscheidung. In jedem Atemzug. Du bist mehr als deine Krise. Du bist mehr als dein Schmerz. Du bist ein Mensch mit der Kraft, deinem Leben Sinn zu geben. Und genau das macht dich frei.


Du suchst nach dem Sinn, doch er bleibt dir verborgen,

ein Schatten im Nebel, ein Flüstern von morgen.

Doch glaube daran – er ist längst schon in dir,

in jedem Moment, in deinem Gespür.


Nicht fremde Gedanken, nicht Stimmen von weit,

du selbst bist es, der Bedeutung verleiht.

In jedem Versuch, in jedem Schritt,

gestaltest du selbst, was bleibt und was tritt.


Du bist nicht dein Schmerz, nicht Zweifel, nicht Pein,

du bist viel mehr – ein Funke, ein Schein.

Ein Herz, das schlägt, das Wege erhellt,

du trägst das Licht, das deine Welt hält.


© Thomas Kalkus-Promitzer, 2025

 
 

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