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Die Kraft der Löwin in dir

Stell dir eine Löwin vor. Sie ruht in der Sonne, die Augen halb geschlossen, ihr Atem ruhig. Doch in jeder Faser ihres Körpers steckt eine kraftvolle Wachsamkeit. Sie kennt ihren Wert, weiß, dass sie nicht ständig kämpfen muss, um ihn zu beweisen. Und doch, wenn es darauf ankommt, ist sie da – entschlossen, stark, kompromisslos in ihrem Schutz für sich selbst und ihr Rudel.


Das Wort „Narzissmus“ hat oft einen negativen Klang. Es wird mit Egoismus, Rücksichtslosigkeit und Selbstverliebtheit gleichgesetzt. Doch es gibt eine andere Seite: den gesunden Narzissmus. Er ist kein Zeichen von Arroganz, sondern von Selbstachtung. Kein Zeichen von Geltungssucht, sondern von Selbstbewusstsein. Es geht darum, sich seines Wertes bewusst zu sein, ohne dabei andere zu erniedrigen.


Viele Menschen neigen dazu, sich selbst zu vernachlässigen. Sie stellen die Bedürfnisse anderer über ihre eigenen, vermeiden es, im Mittelpunkt zu stehen, oder fühlen sich unwohl, wenn sie Anerkennung bekommen. Oft steckt dahinter die Angst, egoistisch zu wirken. Doch wahre Selbstliebe ist kein Egoismus. Wer sich selbst wertschätzt, kann anderen aufrichtig begegnen, ohne sich selbst kleinzumachen.


Denk an die Löwin zurück. Sie wartet nicht darauf, dass jemand ihr erlaubt, ihren Platz einzunehmen. Sie weiß, dass sie es wert ist. Und sie hat keine Angst davor, sich das zu nehmen, was ihr zusteht – Nahrung, Raum, Respekt. Das bedeutet nicht, dass sie rücksichtslos ist. Im Gegenteil: Sie achtet auf ihr Rudel, aber sie opfert sich nicht auf. Denn eine geschwächte Löwin kann niemandem helfen. Genauso ist es mit dir. Du kannst nur dann für andere da sein, wenn du auch für dich selbst sorgst.


Selbstbewusstsein wird oft missverstanden. Manche halten es für Überheblichkeit oder für ein Zeichen von Egoismus. Doch dazwischen gibt es einen gewaltigen Unterschied. Menschen mit gesundem Narzissmus fühlen sich nicht bedroht, wenn andere glänzen. Sie können Lob annehmen, ohne sich dafür zu schämen, und Kritik hören, ohne daran zu zerbrechen. Sie haben ein starkes Rückgrat, aber kein überhöhtes Ego. Sie gehen aufrecht durchs Leben, ohne über andere hinwegzutrampeln.


Es gibt einen feinen, aber entscheidenden Unterschied zwischen „Ich bin der Beste“ und „Ich bin gut genug“. Der erste Satz drängt andere in den Schatten. Der zweite Satz ist eine stille, innere Gewissheit. Viele sind darauf trainiert worden, sich eher kleinzumachen als groß. Bescheidenheit gilt als Tugend, und ja, es ist angenehm, wenn Menschen nicht ständig im Mittelpunkt stehen wollen. Doch wahre Bescheidenheit bedeutet nicht, sich zu verstecken. Sie bedeutet, sich seines Wertes bewusst zu sein, ohne ihn ständig beweisen zu müssen.


Manchmal hilft ein Perspektivwechsel. Stell dir vor, du würdest mit einer guten Freundin oder einem guten Freund sprechen. Würdest du zu dieser Person sagen: „Du bist nicht wichtig. Deine Bedürfnisse zählen nicht. Du solltest dich mehr anstrengen, um geliebt zu werden“? Sicher nicht. Warum also redest du so mit dir selbst?


Ein gesunder Narzissmus erlaubt es dir, stolz auf dich zu sein. Er lässt dich deine Erfolge genießen, anstatt sie herunterzuspielen. Er hilft dir, „Nein“ zu sagen, wenn es nötig ist, und „Ja“ zu dir selbst zu sagen. Und vor allem schützt er dich davor, in Beziehungen zu geraten, die dir nicht guttun – sei es im Job, in der Familie oder in der Liebe. Den eigenen Selbstwert zu erkennen, ist ein Prozess. Er beginnt damit, die eigenen Bedürfnisse nicht mehr reflexartig hintenanzustellen. Er verlangt, Grenzen zu setzen, ohne sich dafür schuldig zu fühlen. Und er zeigt sich in der Fähigkeit, Komplimente anzunehmen, ohne sie sofort abzuschwächen.


Es gibt einen Punkt, an dem du für dich entscheiden musst: Willst du weiterhin versuchen, Erwartungen zu erfüllen, die dich kleinhalten? Oder willst du deine eigene Stärke anerkennen, unabhängig davon, was andere sagen? Niemand kann dir das abnehmen. Aber du kannst lernen, auf deine innere Stimme zu hören und ihr mehr zu vertrauen als den Meinungen von außen. Je mehr du dich mit dir selbst versöhnst, desto weniger wirst du nach Bestätigung suchen, die von außen kommt. Du wirst nicht mehr auf jedes Lob angewiesen sein, um dich wertvoll zu fühlen, und nicht mehr von jeder Kritik verunsichert werden. Dein Wert steht fest – nicht, weil andere ihn anerkennen, sondern weil du ihn kennst.


Es ist eine spannende Reise, sich selbst mit mehr Wertschätzung zu begegnen. Am Anfang fühlt es sich ungewohnt an, vielleicht sogar unbequem. Doch je öfter du dich für dich selbst einsetzt, desto natürlicher wird es sich anfühlen. Es geht nicht darum, über andere hinauszuwachsen. Es geht darum, endlich in deiner eigenen Größe anzukommen.


Schau noch einmal auf die Löwin. Sie ist nicht die größte Jägerin der Savanne, nicht die schnellste, nicht die stärkste. Aber sie ist eine Kämpferin. Sie weiß, wann es Zeit ist zu handeln und wann es Zeit ist zu ruhen. Sie wartet nicht darauf, dass jemand sie rettet. Sie rettet sich selbst – und manchmal auch andere.


So wie die Löwin darfst auch du deinen Platz einnehmen. Ohne Angst, ohne Scham, ohne die ständige Sorge, ob du anderen zu viel bist. Denn du bist genau richtig, so wie du bist.


© Thomas Kalkus-Promitzer, 2025

 
 

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