Durch meine Einsätze im Kriseninterventionsteam bin ich ständig mit Tod, Verlust und Vergänglichkeit konfrontiert. Wenn wir ausrücken, ist etwas Schreckliches passiert. In Situationen, in denen uns das Leben plötzlich und völlig unerwartet den Boden unter den Füßen wegzieht, reagiert jeder Mensch anders. Die einen verstummen, sie erstarren innerlich und äußerlich, wenn der Schrecken mit voller Wucht in die Knochen fährt. Dann steht die Welt für eine Weile still. Die anderen explodieren förmlich emotional, weinen, schreien und toben zuweilen. Andere wiederum nehmen die Nachricht zunächst gefasst auf und „funktionieren“. Zumindest eine Zeitlang.
Ich habe Menschen gesehen, die in diesen Situationen vom Glauben abgefallen sind, Gott verflucht haben. Andere haben sich ihm umso mehr zugewandt und um Beistand von oben gefleht. Es gibt dabei kein richtig oder falsch. Das ist ein Ausnahmezustand. Wir wissen, dass das Ende unvermeidbar ist und hoffen doch inständig, dass es uns so lange wie möglich erspart bleibt. Wir fürchten diese letzte, irreversible Trennung.
Ich kann diese Furcht nachvollziehen, teile sie aber nicht, seit ich als junger Mann eine sehr außergewöhnliche Erfahrung gemacht habe. Eines Nachts, während ich schlief, fand ich mich plötzlich und ohne Vorankündigung außerhalb meines Körpers wieder. Ich träumte nicht, sondern war so wach und bei klarem Bewusstsein wie noch nie zuvor und auch nie mehr danach. Es fühlte sich an, als ob mein ganzer Körper unglaublich schnell vibrieren würde. Tatsächlich konnte dies nicht mein Körper sein, denn der lag regungslos unter mir. Ich betrachtete mich und war davon losgelöst, bestand aus purer Energie, schwebte und schaute neugierig auf mich selbst hinab. „So ist das also, wenn man stirbt“, dachte ich mir. Ohne Zweifel, da war keine Spur von Angst, sondern vielmehr eine mir bis dahin unbekannte Gelassenheit. Es war niemand um mich herum, auch keine vorangegangenen Ahnen, die auf mich warteten. Ich vernahm keine spirituelle Botschaft und sah keine Engel. Vom Tunnel, von dem so viele berichten, war weit und breit nichts zu sehen. Ich schwebte, vibrierte und alles war gut. Trotzdem war da plötzlich der Gedanke: „Ich mag noch nicht gehen. Ich bin noch zu jung.“ Kaum war dieser Gedanke aufgetaucht, begann ich langsam wieder zu sinken. Zentimeter um Zentimeter näherte ich mich allmählich meinem Körper und spürte, wie ich mich wieder mit ihm vereinte. In dem Moment, als ich wieder mit mir selbst eins wurde, nahm ich wahr, wie sich das Gewicht meines Körpers in die Matratze drückte. Dann wurde es friedlich und sehr still. Das Vibrieren hatte aufgehört. Ich öffnete die Augen und war einfach nur da, völlig klar und bewusst. In dieser Nacht verlor ich die Angst vor dem Sterben.
Ich bin neugierig darauf, was danach kommt. Wenn nichts kommt, dann soll es so sein. Ich werde ein letztes Mal Geborgenheit finden, ob im Licht oder der Dunkelheit der Erde. Bis dahin lebe ich. Mindestens.
© Thomas Kalkus-Promitzer, Die Suche nach Geborgenheit, 2022, story.one publishing, ISBN: 9783710818318